Winterfreuden

Von Birgit Loos

Meine Mutter erzählte mir einmal, dass in ihrer Kindheit der Rhein zugefroren war und dass man dieses seltene Ereignis entsprechend würdigte, in dem man in mitten des Flussbettes ein Karussell aufbaute. Glühweinstände und Würstchenbude sorgten für das leibliche Wohl der zahlreichen Besucher, die dieses Jahrhundertereignis mit eigenen Augen sehen wollten. Die Kinder fuhren Schlittschuhe und auch die Eltern hatten ihre Freude daran über den zugefrorenen Rhein zu schlittern. Niemand störte es, wenn er sich auf den Hosenboden setzte. Alles was Beine hatte kam zusammen und genoss dieses Event. Es war kostenlos, aufregend und schön.

Wer in diesen Tagen zwischen Nackenheim und Nierstein am Rhein entlang fährt oder spaziert, wird feststellen, dass der Fluss erhebliches Niedrigwasser hat. Fast die gesamte Strecke zwischen diesen beiden Ortschaften kann man im Rheinbett laufen, ohne sich nasse Füße zu holen. Bei Minusgraden und wenn man Glück hat auch im strahlenden Sonnenschein erlebt man ein seltenes Naturschauspiel.
Hat man erst einmal den Damm überwunden und das Rheinbett erobert, erscheint einem die Welt aus einem völlig anderen Blickwinkel. Dort wo sonst Boote fahren, kommt man heute trockenen Fußes auf die Insel. Der Weg führt teilweise über Eisflächen. Fast der gesamte Grund des alten Vater Rheines ist mit Muscheln besetzt. Sieht man von den schnee- und eisbedeckten Büschen und Bäumen am Ufer ab, könnte man fast denken, man befände sich an einem Meeresstrand. Diese Impression wird besonders deutlich, wenn jenseits der Insel, wo noch genügend Wasser vorhanden ist die Schleppkähne an uns vorbeiziehen. Während man selbst trockenen Fußes über einen Boden läuft, der in nicht allzu ferner Zeit wieder von Wasser überspült sein wird.
Die Menschen, die uns begegnen, erfreuen sich an diesem Phänomen, das vielleicht nur einmal in fünfzig Jahren vorkommt, genauso wie wir. Sie genießen die kalte Wintersonne, bestaunen die bizarren Eisflächen, in denen seltsame Lebensformen, wie Muscheln, Äste, seltsame Steine eingeschlossen sind. Kinder laufen jauchzend über die Eisflächen mit und ohne Schlittschuhe oder versuchen, genau wie Generationen von Kinder vor ihnen, die Eisflächen mit einem Stock aufzubrechen. Mal gelingt es ihnen, ein anderes Mal geben sie frustriert auf. Doch gleich darauf entdecken sie etwas Neues und man hört hier und heute kein Kind, das nach Hause gehen und Computer spielen will. Weil die Natur, so wie sie sich uns heute zeigt, spannender und aufregender ist, als jedes Computerspiel oder jede Fernsehsendung. Denn hier wird ein Reiher, der verzweifelt versucht im zugefrorenen Fluss nach Fischen zu jagen, zu einem Thriller.
Die Sonne steht schon tief und langsam wird es kälter und ungemütlicher. Die Menschen machen sich auf den Heimweg. Die Kinder packen ihre Schlittschuhe ein, legen ihre „Eispickel“ weg und kraxeln den Damm hinauf. Müde, aber glückliche Gesichter sieht man überall. Aufgeregte Stimmen erzählen von dem Abenteuer dieses Tages.

Ein schöner Tag geht zu Ende. Ein Tag, der, viele Menschen glücklich und zufrieden zurückblicken lässt. Schade, dass es solche Tage nicht öfter gibt.

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